Eine Denkschrift über Wunden , Narbe, schmerz und die Bedeutung des Seins
Der Mensch ist Wunde. Der Mensch ist Schmerz. Narben sind symbolische Zeichen und Überreste von Wunden.
Ich übertreibe vielleicht nicht, wenn ich sage, dass der Mensch nichts weiter ist als eine Ansammlung von Narben, die in seinem Körper und vor allem seinem Herzen und seiner Seele zurückbleiben.
Die realste Erfahrung, die ein Mensch in seinem Leben macht, sind Wunden. Der Schmerz ist das Resultat der Wunde und die Narbe ist das Gemälde dieses Erlebnisses.
Wunde bedeutet das körperliche Erleben all jener Schmerzen, die einen Menschen zerreißen.
Wunde, Schneiden, Zerreißen, Auseinanderreißen, Verreißen, Spalten, Scheiden, Trennen sind alles Erlebnisse, bei denen wir Schmerz empfinden.
Im physischen Sinne liegt eine Wunde vor, wenn die Haut geschnitten, gespalten oder zerrissen wird. Dabei brechen Moleküle und Zellen auseinander und Blut fließt.
Wenn die Wunde tief ist, bleibt sie bestehen und wird zu einer Narbe.
Diese Narbe ist die tiefste und unvergesslichste Erinnerung an die Lebenserfahrungen eines Menschen.
Selbst wenn die Wunde und der Körper für immer heilen, selbst wenn es keinen Einfluss auf die Fähigkeiten unseres Körpers hat, erinnern uns diese Narben daran, dass eines Tages, in einem bestimmten Moment, etwas in uns geschnitten, gespalten, zerrissen, getrennt wurde.
Daher ist Trennung möglicherweise die passendste Bedeutung für Wunde.
Bisher halten viele Wissenschaftler*innen und Psycholog*innen die Geburt für das schwierigste und am wenigsten bearbeitete Ternnungserlebnis des Menschens.
All die leidenschaftlichen Träume, nostalgischen Sehnsüchte und sogar die religiösen Erzählungen vom Himmel sind eigentlich ein Wunsch des Menschens nach einer Rückkehr an einen Ort, an dem er eine ewige Sicherheit empfunden hat. Das heißt, der Mensch sucht genau nach jener Sicherheit, die er im Bauch seiner Mutter hatte.
Heißt das, dass der Mensch sterben muss, um zu leben?
(Mensch auf kurdisch bedeutet “mrov”. Manche behaupten, dass “mrov” von “mro/mird”(man/mensch)”-ro”(gehen) und “mrdn” (sterben) kommt, was letztendlich dann “ein sterbendes Wesen” bedeutet.)
Ist die verborgene Bedeutung des Lebens der Tod? Der Verlust jener ewigen Sicherheit?
Können wir sagen, dass die Geburt, die Befreiung und Freiheit hätte bedeuten sollen, gleichzeitig der Verlust jener Sicherheit, also eine Art von Tod ist?
Aus dieser sicheren, komfortablen, freien Welt herauszukommen, einer Welt, in der alles, was man tat und unterließ, nicht nur nicht bestraft wurde, sondern auch zu mehr Zuwendung und Fürsorge führte. Selbst wenn du deiner Mutter einen Tritt in den Bauch verpasst hast, war das eine Anregung dafür, dass sie sich mehr um dich kümmern würde. Eine Welt, in der Essen, Trinken, Schlafen usw. ganz von dir bestimmt wurden. Niemand konnte dich erreichen und keine Autorität konnte dich beherrschen.
Aber wenn man geboren wird, ist der weinende Schrei eines Kindes das erste leidenschaftliche Lied, das der Mensch aus Nostalgie singt!
Wenn die Nabelschnur durchtrennt wird, wird die physische Bedeutung der Wunde symbolisiert und die Nabelschnurwunde als Zeichen der Versklavung durch das Leben hinterlässt für immer eine ewige Narbe nicht nur auf unserem Körper, sondern auch auf unserer Seele, die auf ewig fremd in dieser Welt sein wird.
Ist die größte und tiefste menschliche Wunde nicht die Geburt?
Geboren zu werden bedeutet, akzeptieren zu müssen, die Sicherheit hinter uns zu lassen und uns der Freiheit zuzuwenden.
Deshalb ist eine der wichtigsten philosophischen Fragen der Menschheit jene nach Freiheit oder Sicherheit. Obwohl Freiheit als eine Tugend des Menschen definiert wird, zieht der Mensch in Wirklichkeit die Sicherheit der Freiheit vor.
In der Geschichte der Menschheit ist die Zahl derer, die Sicherheit für Freiheit geopfert haben, so gering, dass wir ihre Biographien alle schreiben können. Doch die Zahl derjenigen, die Freiheit für Sicherheit geopfert haben, ist so groß, dass wir sie weder in der Geschichte noch heute zählen können.
Denn Sicherheit bedeutet, Wunden zu vermeiden, eine Tendenz, in eine Zeit zurückzukehren, in der die Wunde der Trennung noch nicht erlebt wurde.
Aber Freiheit bedeutet, bereit zu sein, verletzt zu werden.
Diese ewige Trennung tut so weh und die Narben dieser Wunde sind so tief und sichtbar, dass uns bis heute das am meisten schmerzt, was Trennung, Spaltung und Zerreißen mit sich bringt. Sei es die Trennung von Familie, Freunden, Heimat oder unserer Haut durch das Schneiden eines Messers.
Daher ist der einzige Schmerz und die einzige Wunde, die ein Mensch liebevoll akzeptieren oder einem geliebten Menschen zufügen kann, die Wunde der Liebe zur Freiheit.
Aber Liebe ist vielleicht ein verträumtes, leidenschaftliches Phantasma, in dem die Menschen die Lücke dieser Wunden füllen wollen. Ein ständiges und dauerhaftes Paradoxon, um anhaltenden Schmerz zu reduzieren, nicht zu trennen, nicht zu verletzen, füreinander eine Salbe für unsere Wunden zu sein und die alten Wunden gegenseitig zu streicheln, sowie, gleichzeitig, dauerhafte Wunden und Narben in- und aneinander zu hinterlassen.
Denn es ist wahr, dass Liebe schmerzend und verletzend ist. Deswegen ist Liebe nicht jedermenschs Sache.
Al-Fudayl ibn ‘Iyad wurde gefragt: “Warum wurde die Liebe so nah am Leid geschaffen?” Er antwortete: “Damit nicht jede*r Dahergelaufene behaupten kann, dass er*sie lieben kann.”
Was für ein vergeblicher Versuch, die Liebe zu einem Zuhause und einem Raum der Geborgenheit zu machen, wenn die Liebe nur ein Flügel sein sollte, um aus den Wunden der Geborgenheit zu fliehen.
Liebe selbst ist die Akzeptanz einer Wunde, um den Schmerz der Freiheit und des freien Lebens zu lindern.
Nur liebend erleidet der Mensch freiwillig Wunden und ist bereit, sich selbst oder seine*n Geliebte*n zu verletzen.
In all den Zeiten, in denen wir verliebt waren, müssen wir den strahlenden Moment des Schmerzes im tiefsten Teil unseres Herzens und unserer Seele gespürt haben. Was man „Verlieben auf den ersten Blick“ nennt, ist der Dolch, der ohne Erlaubnis einen Teil unserer Seele nimmt und sie gewissermaßen auseinanderreißt. Alle Bemühungen nach diesem Moment sind ein Versuch, diese Wunde zu heilen.
Doch der Unterschied zwischen den Wunden der Liebe und anderen Wunden ist, dass der Mensch nicht will, dass die Liebeswunden heilen - denn die Liebe ist das Ergebnis des Schnitts, der diese Wunde erzeugt hat und würden wir diese Wunde heilen, würde die Liebe nicht mehr existieren.
Das heißt, der*die Liebende leidet freiwillig. Die Entscheidung für die Freiheit ist dasselbe wie die Entscheidung für die freiwillige und liebevolle Akzeptanz verletzbar zu sein. Es bedeutet, alle Narben der Seele zu sammeln, um im Interesse der Befreiung eine Statue einer einzigen Narbe zu errichten. Das heißt, sich von jedem Schmerz zu befreien, für nur einen einzigen Schmerz, den Schmerz des Seins.
In der heutigen Philosophie und Wissenschaft akzeptiert niemand mehr René Descartes’ Definition des Seins: „Ich denke, also bin ich.“ Stattdessen sagt man in der heutigen Welt: „Ich fühle, also bin ich.“
Wie wir wissen, entstammt diese Infragestellung des „Seins“ der Philosophie des Zweifels. Descartes hinterfragte auf ähnliche Art wie der chinesische Skeptizismus oder wie Shams-e Tabrizi und Ghazali alles, was wir als Beweise für unsere Existenz haben. Er fasst seine Erkenntnis in den Prinzipien der Philosophie mit der lateinischen Formulierung „ego cogito, ergo sum“ zusammen. Er führte aus: „Indem wir so alles nur irgend Zweifelhafte zurückweisen und für falsch gelten lassen, können wir leicht annehmen, dass es keinen Gott, keinen Himmel, keinen Körper gibt; dass wir selbst weder Hände noch Füße, überhaupt keinen Körper haben; aber wir können nicht annehmen, dass wir, die wir solches denken, nichts sind; denn es ist ein Widerspruch, dass das, was denkt, in dem Zeitpunkt, wo es denkt, nicht bestehe. Deshalb ist die Erkenntnis: »Ich denke, also bin ich,« (lateinisch: ego cogito, ergo sum) von allen die erste und gewisseste, welche bei einem ordnungsmäßigen Philosophieren hervortritt.“ (1644).
Aber zeitgenössische Wissenschaftler*innen haben den Zweifel zu diesen Zweifeln von Descartes hinzugefügt: Nun, was wäre, wenn das, was ich denke, nichts weiter als eine Einbildung ist und ich tatsächlich denke, dass ich denke - was dann?
Deshalb platzierten Forscher*innen in einer wissenschaftlichen Studie einen Menschen in einem Labor, verbanden einige experimentelle Geräte mit seinen Nervenzellen und brachten ihn in einen Zustand der Bewusstlosigkeit. In der Studie wurde versucht herauszufinden, welche Impulse, wie zum Beispiel Nässe, Trockenheit, Kälte, Schmerz oder auch Geräusche wie Regen, zu welchen neuronalen Reaktionen führen. Wenn es regnete, zeigte der Mensch bestimmte Nervenreaktionen, die ein Zeichen dafür waren, dass er den Regen spürte.
Danach gaben die Wissenschaftler*innen dem Probanden durch die experimentellen Geräte dieselben Signale und obwohl es z.B. in Realität nicht regnete, zeigte der Mensch dieselben neuronalen Reaktionen wie bei realem Regen.
Also sollte es eher heißen: “Ich fühle, also bin ich.” Und nicht: “Ich denke, also bin ich.” Denn wäre das Denken ein unabhängiger Mechanismus, müsste der Mensch in solch einer Situation denken und sich damit bewusst machen können, dass es nicht regnet.
Doch der Mensch fühlt den Regen und denkt deswegen auch.
Aber wenn alle anderen Dinge, wie diese Studie, nur unsere Illusionen sind, dann sind die Wunden das, was uns Schmerz gibt und was es uns ermöglicht, uns zu spüren.
Wie ich eingangs gesagt habe, besteht die wahrhaftigste Erfahrung darin, den Schnitt und die dadurch entstehende Wunde zu erleben, die uns Schmerzen bereitet. Selbst wenn die Wunde heilt, bleibt die Narbe bestehen.
Der Mensch ist Wunde, der Mensch ist Schmerz, der Mensch ist Narbe.
Ich habe Schmerzen, ich bin Schmerz, ich schmerze.
Ich bin die Narbe einer alten Wunde. Aber für die Freiheit entscheide ich, dass diese Wunde meine ist und dass meine Narben mit dem Alphabet der Liebe die Freiheit zeichnen.
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